Geschichte des Instituts

Das Institut wurde 1992 als Institut für Geschichte der Medizin gegründet. Zum Gründungsdirektor wurde Prof. Dr. med. Josef N. Neumann berufen. Bis 1998 befanden sich die Räumlichkeiten des Instituts in der Krausenstraße 14, danach in der Magdeburger Straße 27. Seit 2007 ist das Institut in Räumen der ehemaligen Augenklinik auf dem Campus Magdeburger Straße untergebracht. Im Zeitraum von 2011 bis 2016 wurde die inzwischen in Institut für Geschichte und Ethik der Medizin umbenannte Einrichtung von Prof. Dr. phil. Florian Steger geleitet. Zum Sommersemester 2018 wurde Prof. Dr. med. Jan Schildmann, M.A. zum Direktor des Instituts berufen.


Geschichte und Ethik der Medizin an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg

Ein erstes medizinhistorisches Kolleg an der 1694 gegründeten Friedrichs-Universität Halle lässt sich für das Jahr 1717 nachweisen. Der Universalgelehrte Johann Heinrich Schulze (1687-1744), ein Schüler Friedrich Hoffmanns (1660-1742), beginnt in jenem Jahr, „einer starcken Anzahl Zuhörer die Physiologie, Anatomie und Historie der Medicin und nachgehends die Chymie zu erklären“ (1). Nach einem längeren Intermezzo an der Universität Altdorf liest Schulze nach seiner Rückkehr an die Fridericiana Halensis ab 1733 regelmäßig über verschiedene medizinhistorische Themen und Persönlichkeiten. Seine Vorlesungen sind öffentlich und finden in den Spalten der Wöchentlichen Hallischen Anzeigen wiederholt Erwähnung. Als Demonstrationsobjekte nutzt Schulze, der auch ein bedeutender Numismatiker war, vornehmlich Münzen.

Nach Schulzes Tod wird es in Halle in den folgenden Jahrzehnten um den medizinhistorischen Unterricht etwas stiller. Neue und bedeutsame Impulse gehen dann von Kurt Sprengel (1766-1833) aus, der 1787 in Halle zum Doktor der Medizin promoviert wird und zunächst als Arzt praktiziert. Außerordentlich breit begabt und neun Sprachen beherrschend hält Sprengel neben seiner ärztlichen Tätigkeit botanische Vorlesungen an der Universität. Zugleich entfaltet er eine umfangreiche Publikationstätigkeit, zu der auch Übersetzungen wichtiger antiker Autoren zählen, darunter Galen, dessen Fieberlehre er ins Deutsche überträgt. 1795 erhält Sprengel eine ordentliche Professur für Pathologie, der er sich nicht weniger intensiv widmet als der Medizingeschichte. Zwei Jahre später kommt noch das Ordinariat für Botanik hinzu, das mit der Leitung des Botanischen Gartens verbunden ist. Sein medizinhistorisches Hauptwerk, den mehrbändigen Versuch einer pragmatischen Geschichte der Arzneikunde, hat Sprengel zu dieser Zeit bereits begonnen. Mit diesem epochemachenden Werk sowie als Mitglied zahlreicher Akademien und wissenschaftlicher Gesellschaften wirkt er weit über die 1817 neu gegründete Vereinigte Friedrichs-Universität Halle-Wittenberg hinaus und avanciert zu einem der berühmtesten Medizinhistoriker seiner Zeit. Sprengel komme der Ehrentitel eines „Vaters der med. Geschichtsschreibung“ zu, wird 60 Jahre nach seinem Tod sein kundiger Fachkollege Julius Pagel über ihn schreiben (2).

Konnte Sprengel als Mediziner, Botaniker und Wissenschaftshistoriker noch auf mehreren Fachgebieten als ausgewiesener Experte gelten, so ist dies seinen geistigen Nachfahren im Laufe des 19. Jahrhunderts immer weniger möglich. Zu groß ist der Wissenszuwachs in Medizin und Naturwissenschaften, zu stark der Drang zur Spezialisierung und zur Herausbildung von Subdisziplinen. Die Hinwendung der Medizin zu den Naturwissenschaften und die Etablierung experimenteller Forschungsmethoden lässt die Autoritäten vergangener Epochen als überholt und weniger wichtig erscheinen. Unter dieser Entwicklung verliert die Medizinhistoriografie an Bedeutung. Ende des 19. Jahrhunderts findet sich die Medizingeschichte, die 100 Jahre zuvor noch ganz selbstverständlich integraler Bestandteil der Medizin war, auf einer Randposition wieder. Der Philosophie, über viele Jahrhunderte als „Schwester der Medizin“ angesehen, ergeht es kaum anders. 1861 wird in Preußen das tentamen philosophicum durch eine naturwissenschaftliche Vorprüfung, das tentamen physicum, ersetzt, wodurch das Medizinstudium seine geisteswissenschaftlichen Anteile weitgehend verliert (3).

Auch in Halle bleibt die Medizingeschichte gegen Ende des 19. Jahrhunderts als Forschungs- und Lehrfach hinter dem allgemeinen Aufschwung der naturwissenschaftlich orientierten Medizin zurück. Die medizinhistorischen Vorlesungen und Publikationen des 1911 nach Halle berufenen Pathologen Rudolf Beneke (1861-1946) stoßen weder bei seinen Hörern noch bei anderen Medizinhistorikern auf große Resonanz. Wichtige Beiträge besonders zu ethischen Fragen in Medizin, Wissenschaft und Gesellschaft leisten indessen der Hallenser Physiologe Emil Abderhalden (1877-1950) und der protestantische Theologe Fritz Jahr (1895-1953). Abderhalden gründet zu Beginn der 1920er Jahre mit der Ethik eine der ersten medizinethischen Zeitschriften weltweit (4). Jahr, der nach seinem Theologiestudium in Halle als Pastor und Lehrer arbeitet, prägt 1926 in einem Aufsatz den Begriff Bioethik. Jahr will darunter nicht nur die moralische Berücksichtigung des Menschen, sondern auch der Tier- und Pflanzenwelt verstanden wissen (5). Diese erweiterte Bedeutung hat der Begriff im Zuge seiner internationalen Verbreitung in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts weitgehend eingebüßt.

Es ist der 1927 nach Halle berufene Internist Theodor Brugsch (1878-1963), der mit seiner universalen Bildung auch der Medizingeschichte wieder mehr Sichtbarkeit an der Fakultät verleiht. Bereits in seiner Antrittsvorlesung widmet er sich der Geschichte der Halleschen Kliniken (6) und bietet in den Folgejahren regelmäßig medizinhistorische Vorlesungen an. Als ihn die Universität 1935 seiner jüdischen Ehefrau wegen zur Aufgabe seiner Stellung zwingt, vertreibt sie nicht nur einen weltgewandten Internisten, sondern auch einen kenntnisreichen Medizinhistoriker. An die Stelle des liberalen Brugsch tritt der Nationalsozialist Otto Geßner (1895-1968), der 1936 als Direktor des Pharmakologischen Instituts Nachfolger des von den Nationalsozialisten in den Tod getriebenen Martin Kochmann wird. 1939 wird die Medizingeschichte in ganz Deutschland zu einer Pflichtvorlesung. Diese soll die Studierenden von der vermeintlich historischen Notwendigkeit und der moralischen Richtigkeit der nationalsozialistischen Gesundheitspolitik überzeugen (7). Geßner wird im Mai 1945 durch amerikanisches Militär festgesetzt und von der Universität entlassen.

In der 1949 gegründeten DDR gehört die Geschichte der Medizin zunächst nicht zum Pflichtcurriculum des Medizinstudiums. In Halle wird den Studierenden Ende der 1940er Jahre stattdessen eine Vorlesung des kommunistischen Veteranen und SED-Mitbegründers Bernhard Koenen (1889-1964) über Die Politischen und Sozialen Probleme der Gegenwart angeboten. Zehn Jahre später hat sich das Lehrangebot erweitert und differenziert. So müssen die Medizinstudierenden im Studienjahr 1958/59 Vorlesungen und Seminare über die Grundlagen des Marxismus-Leninismus besuchen, der zur Staatsdoktrin der DDR geworden ist. Daneben bietet Hans-Heinz Eulner (1925-1980), Pharmakologe und zugleich Lehrbeauftragter für Medizingeschichte, eine fakultative Vorlesung über Große Ärzte des 19. und 20. Jahrhunderts, ein medizinhistorisches Kolloquium sowie eine Einführung in die Technik des wissenschaftlich-literarischen Arbeitens an. Als wichtige Forscherpersönlichkeit jener Zeit verdient überdies Rudolph Zaunick (1893-1967) Erwähnung, der seit 1952 als Professor für Geschichte und Dokumentation der Naturwissenschaften in Halle wirkt. Zwei Jahre später wird er zum Direktor Ephemeridum und damit zum Herausgeber der Zeitschrift der Leopoldina ernannt. Sein vielversprechender Schüler Eulner siedelt 1959 in die Bundesrepublik über, wo er 1967 ein Ordinariat für Geschichte der Medizin in Göttingen erhält (8).

Mitte der 1960er Jahre tritt mit Wolfram Kaiser (1923-2008) ein neuer Akteur auf den Plan. Aus der Inneren Medizin kommend und dort auch habilitiert erhält Kaiser 1967 eine Professur mit Lehrauftrag für Geschichte der Medizin. 1975 beruft ihn die Martin-Luther-Universität auf ein Ordinariat für Geschichte der Medizin. Von ihm selbst und aus seinem Arbeitskreis, dem unter anderem die Ärztin und Medizinhistorikerin Arina Völker angehört, stammt eine stattliche Anzahl medizinhistorischer Publikationen. Viele entstehen in Zusammenarbeit mit dem langjährigen Leiter des Stadtarchivs Halle, Werner Piechocki (1927-1996). Thematische Schwerpunkte sind unter anderem die Geschichte der Universität und ihrer Medizinischen Fakultät vom 17. bis ins 19. Jahrhundert, Forschungen zu Heilkunde und Aufklärung sowie zu den internationalen Wissenschaftsbeziehungen der Universität Halle (9). Kaiser wird 1988 emeritiert.

Ende der 1970er Jahre führt die DDR Pflichtkurse zur Geschichte der Medizin sowie zum Thema Arzt und Gesellschaft ein, in denen auch medizinethische Fragen vermehrt zur Sprache kommen. In Halle widmen sich mehrere zum Teil international besetzte Symposien historischen und ethischen Fragen der Medizin. Schließlich entsteht eine der Medizinischen Fakultät angegliederte Abteilung für marxistisch-leninistische Ethik in der Medizin, zu deren Leiter 1987 Ernst Luther (geb. 1932) berufen wird. Nach dem Beitritt der DDR zur Bundesrepublik am 3. Oktober 1990 wird die Abteilung zum Jahresende 1991 aufgelöst. Der neu ausgeschriebene Lehrstuhl für Geschichte der Medizin wird 1992 mit Josef N. Neumann (geb. 1945) besetzt (10). Zwei Jahre später, im September 1994, ist das Institut Gastgeber der 77. Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für Geschichte der Medizin, Naturwissenschaft und Technik. 1999 erfolgt schließlich die Umbenennung in Institut für Geschichte und Ethik der Medizin.


Literatur

1. Johann Christoph von Dreyhaupt, Beschreibung des Saal-Creyses, Bd. II, Halle 1755, hier zitiert nach: Arina Völker, Medizinhistorischer Unterricht in der Gründungsepoche der Universität Halle, in: dies./Burchard Thaler (Hg.), Die Entwicklung des medizinhistorischen Unterrichts, Halle 1982, S. 65-73, 66. Ausführlich zu Schulze siehe auch Wolfram Kaiser/Arina Völker, Johann Heinrich Schulze (1687-1744), Wissenschaftliche Beiträge der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg 1980/45 (T 38), Halle (Saale) 1980.

2. Ernst Wunschmann/Julius Pagel, Sprengel, Kurt, in: Allgemeine Deutsche Biographie, hrsg. von der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Bd. 35 (1893), S. 296-299, 298. Ausführlich zu Sprengel siehe Wolfram Kaiser/Arina Völker, Kurt Sprengel (1766-1833), Wissenschaftliche Beiträge der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg 1982/31 (T 46), Halle (Saale) 1982.

3. Vgl. Petra Lennig, Benötigen Ärzte Philosophie? Die Diskussion um das Philosophicum 1825-1861, in: Johanna Bleker/Marion Hulverscheidt/dies. (Hg.), Visiten. Berliner Impulse zur Entwicklung der modernen Medizin, Berlin 2012, 55-71. Siehe auch Thomas Bohrer et al., Die Schwester der Medizin. Warum wir heute wieder ein Philosophicum brauchen, in: Deutsches Ärzteblatt 107 (2010), A 2591-2592 sowie Beat Gerber, Warum die Medizin die Philosophie braucht. Für ein umfassendes Verständnis von Krankheit und Gesundheit, Bern 2020.

4. Vgl. Andreas Frewer, Medizin und Moral in Weimarer Republik und Nationalsozialismus. Die Zeitschrift „Ethik“ unter Emil Abderhalden, Frankfurt/New York 2000.

5. Vgl. Florian Steger/Jan C. Joerden/Maximilian Schochow (Hg.), 1926 – Die Geburt der Bioethik in Halle (Saale) durch den protestantischen Theologen Fritz Jahr (1895-1953), Frankfurt 2014.

6. Vgl. Theodor Brugsch, Die Klinik in Halle (historisch), in: Sudhoffs Archiv 20 (1928), S. 17-32.

7. Vgl. Florian Bruns, Medizinethik im Nationalsozialismus. Entwicklungen und Protagonisten in Berlin (1939-1945), Stuttgart 2009, S. 57-71.

8. Vgl. Florian Bruns, Zwischen Verflechtung und Abgrenzung: Das Fach Medizingeschichte im geteilten Deutschland (1945-1959), in: Medizinhistorisches Journal 49 (2014), S. 77-117, 96f.

9. Vgl. Horst Hesse (Bearb.), Medizinhistorische Schriften von Wolfram Kaiser (Halle), 3. Auflage, Kleve 2006.

10. Vgl. Josef N. Neumann, Medizinethik in Ostmitteleuropa, in: Zeitschrift für medizinische Ethik 53 (2007), S. 323.