„Was Sprachtherapie kann“ - Ein Interview über Logopädie am Universitätsklinikum Halle (Saale)
Seit der Eröffnung der Fotoausstellung „Was Sprachtherapie kann“ haben uns zahlreiche Besucher gefragt, welche Rolle denn die Logopädie an einem Klinikum spielt. Um diese Frage zu beantworten und mehr über den Hintergrund der Ausstellung zu erfahren, haben wir die Initiatorin der Ausstellung, Beate Stoye, und die Leiterin der Abteilung für Phoniatrie und Pädaudiologie, Prof. Dr. Sylva Bartel, interviewt.
Beate Stoye ist Akademische Sprachtherapeutin mit eigener Praxis in Halle (Saale). Sie ist ehrenamtlich Vertreterin der Landesgruppe Sachsen-Anhalt des Deutschen Berufsverbands für akademische Sprachtherapie und Logopädie und Initiatorin der Fotoausstellung „Was Sprachtherapie kann“.
Prof. Dr. Sylva Bartel ist Fachärztin für Hals-Nasen-Ohren-Heilkunde, Phoniatrie und Pädaudiologie. Sie leitet die Abteilung für Phoniatrie und Pädaudiologie der Universitätsklinik und Poliklinik für Hals-Nasen-Ohren-Heilkunde, Kopf- und Hals-Chirurgie, die mit einem Team aus Logopäd/innen und Sprechwissenschaftler/innen die Patienten betreut.
In der vergangenen Woche wurde der Tag der Logopädie begangen um über logopädische Themen zu informieren. In diesem Jahr standen Autismus-Spektrum-Störungen im Zentrum, in den Vorjahren wurden etwa das Stottern oder auch neurologische Erkrankungen die zu Störungen des Schluckens, Sprechens, der Sprache oder der Stimme führen, thematisiert. Die Bandbreite der Störungsbilder, in denen die Logopädie zum Einsatz kommt, erscheint äußerst vielfältig! Ist es Ziel der Ausstellung, diese Vielfalt abzubilden?
Stoye: Das Ziel der Ausstellung ‚Was Sprachtherapie kann‘ ist es, die Gesellschaft über die Frage: ‚Was Logopädie ist‘ aufzuklären. Logopädie/Sprachtherapie ist ein Begriff, von dem jeder annimmt, ihn zu kennen. Dies erschwert deutlich die Aufklärung. Nach meiner Beobachtung ist es nicht hilfreich, auf diese Frage mit einer Definition zu antworten. ‚Googeln‘ Sie diese Frage, dann erscheint als erste Antwort: ‘Wissenschaft und Behandlung von (physiologischen oder auch psychisch bedingten) Sprachstörungen; Sprachheilkunde‘. Das heißt, die Antwort auf Ihre Frage finden Sie in der Ausstellung.
Sind logopädische Praxen eher spezialisiert, oder bieten Sie das gesamte Therapiespektrum an?
Stoye: Praxen für Sprach-, Sprech-, Stimm- und Schluckstörungen sind sehr vielfältig und damit sehr unterschiedlich aufgestellt. Es gibt durchaus einige Praxen, die sich auf bestimmte Störungsbilder spezialisiert haben, aber es gibt sehr viele Sprachtherapeuten, die ein breites Spektrum anbieten. Nach meiner Beobachtung richten sich die Arbeitsfelder eher nach den Gesetzen des Marktes.
Welche Rolle spielt die Logopädie denn innerhalb eines Klinikums?
Bartel: Die Logopäd/innen und Sprachtherapeut/innen behandeln im Universitätsklinikum Patienten mit Sprach-, Sprech-, Stimm- und Schluckstörungen nicht nur im ambulanten Bereich der HNO-Klinik und der phoniatrisch-pädaudiologischen Ambulanz, sondern auch intensiv auf den Stationen – dies betrifft die HNO-Klinik und extern vor allem die neurologische Klinik, die Intensivstationen, die internistische Klinik und die Kinderklinik. Ebenso werden Patienten mit Hörstörungen und nach CI-Implantation therapiert und versorgt. Die Abteilung für Phoniatrie und Pädaudiologie versteht sich hier auch als Dienstleister für alle anfordernden Kliniken unseres Klinikums.
Die Phoniatrie und Pädaudiologie ist ein medizinisches Wissensgebiet, das sich mit Stimmstörungen, kindlichen Hörstörungen, zentralen Hörverarbeitungs- und Wahrnehmungsstörungen, Störungen der Sprachentwicklung, erworbenen Sprech- und Sprachstörungen, z.B. in Form von Aphasien, und mit Schluckstörungen befasst. Der interdisziplinären ärztlichen und therapeutischen Zusammenarbeit mit der Hals-Nasen-Ohrenheilkunde, der Kinderheilkunde, der Neurologie, der Mund-Kiefer-Gesichts-Chirurgie, der Kieferorthopädie und anderen Fachdisziplinen wird große Bedeutung geschenkt.
Zur Begriffsbedeutung der Logopädie, die im englischen Sprachraum auch als speech-language pathology bezeichnet wird, ist anzumerken, dass sie die Lehre der Übungsbehandlung von Erkrankungen auf dem Gebiet der Phoniatrie und Pädaudiologie beinhaltet. Der Klinik ist deshalb mit dem hiesigen Ausbildungszentrum für Gesundheitsfachberufe - Fachbereich Logopädie - engstens verbunden. Die Schüler/innen erhalten ihre theoretische und praktische Ausbildung in enger Zusammenarbeit mit der HNO-Klinik und Abt. für Phoniatrie und Pädaudiologie.
Wird in diesem Bereich in der Universitätsmedizin Halle (Saale) auch geforscht?
Bartel: Ja, die klinische Forschungsaktivität umspannt im Bereich der Stimmstörungen etwa Stimmklang- und Stimmleistungsfragestellungen und -beurteilungen bei stimmintensiven Berufen wie Lehrer/innen und Sänger/iInnen. Bei den Sprechstörungen die Sprechkompetenz bei Patienten mit Spaltfehlbildungen und Hörstörungen im Zusammenhang mit Ohrfehlbildungen, seltenen Mittelohrerkrankungen und auditiven Verarbeitungs- und Wahrnehmungsstörungen. Ein weiterer experimenteller Ansatz untersuchte die geweblichen Veränderungen nach einer Strahlentherapie bei Tumorerkrankungen im Bereich der oberen Atemwege, die zu einer komplexen Störung der Kommunikations- und Schluckkompetenz beitragen.
Welche Veränderungen und Fortschritte gab es in den letzten Jahren im Bereich der Logopädie?
Stoye: In den letzten Jahren hat sich mein Arbeitsbereich stark verändert. Dies wurde auch durch meinen Berufsverband (dbs) untersucht. In einer Umfrage gaben 87% der Befragten an, dass die Störungsbilder komplexer geworden sind.
Der Bereich der Gehörlosigkeit hat sich in den letzten 20 Jahren stark verändert. Die Möglichkeit durch das Cochlea-Implantat (CI) das Hören zu erlangen, ist für mich eine der größten Errungenschaften in meinem Fachgebiet.
Die Diagnostik in der Sprachtherapie hat sich deutlich erweitert. Die standardisierte und vor allem normierte Analyse der linguistischen Ebenen hilft einen genauen Sprachstatus zu ermitteln. Durch diesen genauen Wert kann man die Fortschritte des Patienten innerhalb der Sprachtherapie sehr genau bezeichnen, konkret in Zahlen messen.
Auch im Bereich der Mehrfachbehinderung gibt es in der Sprachtherapie neue Arbeitsfelder für die Therapeuten und vor allem für den betroffenen Menschen. Durch die Unterstützte Kommunikation gelingt es vielen Personen mit Sprachstörungen, mit ihrer Umwelt zu kommunizieren und zu interagieren.
Bartel: Hier am Klinikum fließen Forschungsergebnisse, etwa bei den auditiven Verarbeitungs- und Wahrnehmungsstörungen oder Schluckstörungen, unmittelbar in die Patientenversorgung ein, in dem eine gezieltere Diagnostik ermöglicht wird, unnötige Therapien vermieden werden und insbesondere eine wissenschaftlich untersetzte Beratung erfolgt. Dies entspricht auch den Erfordernissen einer evidenzbasierten Medizin.
Stoye: Die Schlucktherapie ist ein Gebiet, in dem die Patienten wirklich sehr von der Forschung und der interdisziplinären Zusammenarbeit profitieren. Die Versorgung von Patienten mit einer Magensonde ist oft eine lebensnotwendige Maßnahme. Forschungen haben aufgezeigt, dass Patienten nach einem Schlaganfall früher häufig an der Schluckstörung verstorben sind. Auch im Bereich der Säuglings- und Kleinkindsversorgung steigt die Zahl der Patienten mit einer Schluckstörung. Die lebenswichtige Sondenernährung verschafft der/m Therapeut/in und natürlich dem Kind Zeit, die Schlucktherapie effektiv durchzuführen. In dieser Zeit ist es von großer Bedeutung, dass alle Personen, die sich mit der Behandlung und Versorgung dieses Kindes beschäftigen, gut zusammen arbeiten. Hier im UKH können wir dies mit sehr großem Erfolg so praktizieren. Es sind die besonders schönen Momente im Arbeitsleben, wenn das Kind zum Schluss die Klinik ohne Sonde verlassen kann.
Diese Fortschritte, diese Möglichkeiten in der Sprachtherapie sind sehr spannend.
Wie kamen Sie persönlich denn erstmals mit Logopädie in Berührung?
Stoye: In meinem Leben, wie in so vielen Biografien der ostdeutschen Bevölkerung spielt die ‚Wende‘ eine entscheidende Rolle. Vor 1989 wollte und sollte ich Lehrerin werden. Nach der Wende habe ich die vielen arbeitslosen Lehrer/innen im Westen wahrgenommen und entschied mich daher für ein anderes Studienfach. Zufällig entdeckte ich im 2. Semester einen Aushang mit dem Namen ‚Sprachentwicklungsstörungen‘. Das klang in meinen Ohren spannend und so bin ich dorthin marschiert. Diese Vorlesung hat mich sofort in ihren Bann gezogen und dieses Thema hat mich bis heute nicht losgelassen. Allerding besteht mein Hang zur Wissensvermittlung noch immer und so freue ich mich sehr über Referententätigkeiten.
Bartel: Nach meinem Studium in Berlin befand ich mich in der Weiterbildungszeit zur Fachärztin für Pathologie. Bei einer Fortbildung traf ich auf eine ärztliche Kollegin mit ausgesprochener phoniatrisch-pädaudiologischer Expertise aus dem Berliner Universitätsklinikum. Sie berichtete mir von ihrem Fachgebiet und ihrer täglichen Arbeit - schon damals mit einem interdisziplinären Kontext. Sie erzählte aber auch von ihren Nachwuchssorgen. Sehr persönlich angetan und nach einer Hospitation in der phoniatrisch-pädaudiologischen Abteilung beschloss ich dann in die HNO-Klinik und Phoniatrie und Pädaudiologie zu wechseln; hier nun traf ich erstmals auf die Logopäd/innen und habe ihre klinische Erfahrung, das diagnostische Können und die therapeutische Expertise sehr schätzen gelernt. Diese gelebte interdisziplinäre Arbeit, die Erfahrung und den damit verbundenen Austausch und Respekt bezüglich der therapeutischen Berufe habe ich beim Wechsel nach Halle an das hiesige Universitätsklinikum mitgenommen und darf eine mittlerweile 25-jährige verbindliche Teamtätigkeit benennen und betonen.
Ebenso unterschiedlich wie die verschiedenen Sprech-, Sprach-, Stimm- und Schluckstörungen sind sicherlich auch die Schicksale der Patienten?
Stoye: Jeder Tag, jeder Patient bietet mir immer wieder eine Überraschung, stellt mich vor neue Herausforderungen. Zum Beispiel haben drei Mädchen mit einem Cochlea-Implantat (CI) an der Ausstellung teilgenommen. Auf den ersten Blick ähneln sich diese Fälle vielleicht. Schaut man aber genauer, entdeckt man die Verschiedenheit:
Eine Patientin wurde sehr früh, bereits im Säuglingsalter mit dem Implantat versorgt. Diese Patientin habe ich im Alter von 8 Jahren kennengelernt. Trotz so früher Operation fällt es dem Mädchen sehr schwer, die Lautsprache zu erwerben, verständlich zu sprechen. Die Eltern kamen damals mit der Frage zu mir, ob ihr Kind intelligent genug für den Erwerb der Sprache sei. Die durchgeführte Diagnostik ergab, dass es dem Kind an Intelligenz nicht mangelt, aber es fällt ihr sehr schwer, einen altersadäquaten Wortschatz aufzubauen. Und das stellt das Kernproblem dieses Mädchens in der Kommunikation dar.
Bei einer anderen Teilnehmerin der Ausstellung wurde erst im Kindergarten die Gehörlosigkeit bemerkt. Dieses Mädchen wurde daher spät operiert. Zum Zeitpunkt des Schuleintritts hatte das Kind eine relativ unauffällige Artikulation. Eine weitere Patientin, die ich seit vielen Jahren kenne, hatte bis zum etwa 5. Lebensjahr sehr große Probleme in der Sprachentwicklung. Erst in ihrem 5. Lebensjahr wurde die Schwerhörigkeit diagnostiziert. Diese Patientin hat mit dem Hörgerät ihren Rückstand schnell aufholen können. Mit ca. 14 Jahren hat auch sie ein Cochlea-Implantat erhalten. Sie hat trotz einiger Einschränkungen das Abitur erworben und studiert heute Sozialwissenschaften.
Jeder Fall, jeder Mensch ist sehr individuell. Diese Tatsache macht meinen Beruf so spannend und stellt die Therapeuten jeden Tag vor Herausforderungen. Das Ziel in der Therapie ist immer unter den gegebenen Möglichkeiten, das Optimum zu erreichen, die Kommunikation zu verbessern, die Lebensqualität zu erhalten.
Ich kann allen interessierten Lesern dieses Interviews nur empfehlen: Schauen Sie sich die Fotografien an und bestaunen Sie und tauchen Sie in die Geschichten, die Schicksale der Patienten ein.
Bartel: Ich freue mich darüber, die Ausstellung im Universitätsklinikum zeigen zu können und wünsche der Ausstellung viele Besucher, die das Spektrum der sprachtherapeutischen Berufe kennenlernen und anerkennen.
Die Fotoausstellung „Was Sprachtherapie kann“ ist bis 31. Mai 2019 im Hörsaalfoyer des Universitätsklinikums Halle (Saale), Ernst-Grube-Straße 40, Funktionsgebäude 5/6 im Untergeschoss 02, zu sehen. Der Eintritt ist frei.
Weitere Informationen finden Sie hier.