War Kaiser Wilhelm II. psychisch gestört? Medizinhistoriker setzen sich mit psychiatrischen Ferndiagnosen und politischem Urteil auseinander
Wenn von manchen hochrangigen und stark polarisierenden Politikern gesprochen wird, steht immer wieder die Frage im Raum, ob das politische Handeln von psychischen Erkrankungen beeinflusst sein könnte. Häufig werden diese Einschätzungen von Laien, insbesondere aus dem gegnerischen Lager, aber mitunter auch als Ferndiagnose von medizinischen Experten getroffen.
Dass diese Diskussionen nicht neu sind, sondern auch schon vor mehr als 100 Jahren geführt wurden, zeigt eine wissenschaftliche Studie über den letzten deutschen Kaiser Wilhelm II., die der Medizinhistoriker Dr. Florian Bruns vom Institut für Geschichte und Ethik der Medizin der Medizinischen Fakultät der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg und Prof. Dr. Axel Karenberg von der Uniklinik Köln in der Zeitschrift „Fortschritte der Neurologie Psychiatrie“ im Thieme-Verlag veröffentlicht haben (DOI: https://doi.org/10.1055/a-0942-9575).
„Nach dem Ersten Weltkrieg und dem Untergang der Monarchie haben sich viele Ärzte dahingehend geäußert, dass Kaiser Wilhelm II. psychisch krank gewesen sein müsse. Sie beschieden ihm unter anderem eine manisch-depressive Erkrankung, eine ‚allgemeine Nervenschwäche‘ oder eine ‚angeborene psychische Entartung‘“, sagt Bruns, der sich in seiner Forschung mit dem Themenkomplex Medizin und Novemberrevolution 1918 schwerpunktmäßig auseinandersetzt.
Das Problem: Keiner dieser Ärzte, die sich zum kaiserlichen Gesundheitszustand äußerten, hatten diesen je persönlich untersucht. „Es gibt nur wenige medizinische Aufzeichnungen über den Kaiser, das meiste sind allgemeine Zeitzeugnisse. Die Diagnosen sind daher letztlich Ferndiagnosen und somit Spekulationen“, so der Medizinhistoriker. Gut belegt sei indes, dass der Kaiser eine „schillernde, extrovertierte Persönlichkeit“ gewesen sei, sagt Bruns. Darin habe der eine oder andere Zeitgenosse krankhafte Züge gesehen. Selbst Wilhelms eigener Vater, Friedrich III., warnte den Reichskanzler Bismarck vor der „mangelhaften Reife“ und „Selbstüberschätzung“ seines Sohnes. Das allein sind jedoch keine Beweise für psychopathologische Züge.
Die diagnostischen Zuschreibungen dienten vor allem den Gegnern Wilhelm II. als Mittel der politischen Auseinandersetzung, wie die Autoren schreiben. Einerseits war dem Kaiser die Flucht ins holländische Exil 1918 aufgrund des verlorenen Krieges sehr übel genommen und als Feigheit ausgelegt worden, selbst in kaisertreuen Kreisen war die Verbitterung groß. Indem man alles auf die Person des Kaisers schon, konnte man außerdem davon ablenken, dass auch Staat und Gesellschaft versagt und sich in einen sinnlosen und verlustreichen Krieg hatten führen lassen. „Doch auch Revolutionäre wurden 1918 gerne für verrückt oder unzurechnungsfähig erklärt, um sie zu stigmatisieren. Die Pathologisierung diente als politische Waffe“, sagt Bruns.
Ob Wilhelm II. eine bipolare Störung gehabt habe, werde nie mehr abschließend zu klären sein. Grundsätzlich müsse darauf geachtet werden, psychiatrisches und politisches Urteil strikt voneinander zu trennen – auch im Fall der eingangs angesprochenen Politiker der Jetztzeit. „Die Ereignisse vor 100 Jahren sollten als Beispiel gesehen werden. Der politische Diskurs ist das eine, aber für eine tatsächliche Diagnose braucht es seriöse medizinische Untersuchungen“, sagt Bruns.
„Medizin und Revolution im mitteldeutschen Raum 1918-1923“ ist eines der Themen der 8. Mitteldeutschen Konferenz für Medizin- und Wissenschaftsgeschichte, die am Mittwoch, 9. Oktober 2019, 10 bis 16 Uhr, in Halle stattfindet. Veranstaltungsort ist der Seminarraum 2 in der Magdeburger Straße 8, Medizin-Campus Steintor in Halle (Saale). Für eine Teilnahme wird um kurze Anmeldung per E-Mail gebeten an .
Das vollständige Programm finden Sie hier: http://www.uk-halle.de/fileadmin/Bereichsordner/Institute/GeschichteEthikMedizin/Veranstaltungen_PDF/Programm_8._Mitteldeutsche_Konferenz_2019_1.pdf