Gleichstellung in der Wissenschaft: Interview mit der Gleichstellungsbeauftragen der Medizinischen Fakultät in Halle
Gleiche Rechte, gleiche Chancen? Obwohl die Chancengleichheit in der Wissenschaft in den letzten Jahrzehnten große Sprünge gemacht hat, sind Frauen in höheren Karrierestufen noch immer unterrepräsentiert. Anlässlich des Internationalen Tages der Frauen und Mädchen in der Wissenschaft am 11. Februar erläutert Annika Weißenborn, Gleichstellungsbeauftragte der Medizinischen Fakultät der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg, Angebote und Herausforderungen im Interview.
Frau Weißenborn, wie steht es momentan um die Gleichstellung in der Wissenschaft?
Annika Weißenborn: Das kommt darauf an, wohin man schaut. 2019 betrug der Frauenanteil in der Wissenschaft laut UNESCO in Deutschland nur 28 Prozent, ist damit fast europäisches Schlusslicht und liegt unter dem globalen Schnitt. Im Vergleich dazu stehen wir an der Medizinischen Fakultät in Halle bereits gut da: Ungefähr die Hälfte der wissenschaftlichen Mitarbeitenden sind Frauen. Dennoch gibt es eine Diskrepanz, die am Studienfach Medizin deutlich wird. Obwohl etwa zwei Drittel aller Absolvent:innen Frauen sind, setzt sich dieser Trend in der akademischen Karriere nicht fort. Besonders bei den Professuren geht das Verhältnis weit auseinander.
Welche Aufgaben und Ziele ergeben sich daraus?
Unser Einsatz zielt darauf ab, den Anteil der Frauen in der Wissenschaft zu erhöhen, insbesondere auf der Ebene der Professuren und Leitungspositionen. Das ist Ziel der Fakultät, aber auch im Hochschulgesetz und Frauenfördergesetz des Landes sowie in den Empfehlungen des Wissenschaftsrates und der Deutschen Forschungsgemeinschaft verankert. Wissenschaft muss für qualifizierte Frauen Zugänge schaffen, um das Forschungspotenzial auszuschöpfen.
Wie lässt sich das erreichen?
Es gibt keine allgemeingültige Lösung. Zunächst muss man klarstellen, dass Gleichstellung nicht bedeutet, ausschließlich Frauen zu berücksichtigen. Sonst wären wir Frauenbeauftragte. Gleichstellung ist eine gesellschaftliche Herausforderung, die alle einbeziehen muss. Momentan wird die traditionelle Rollenverteilung langsam weiter aufgebrochen, Elternzeiten werden aufgeteilt und beide Partner versuchen die Arbeitszeit familiengerecht zu gestalten. Es braucht vor allem Zeit und Sicherheiten! Für Nachwuchswissenschaftler:innen, die sich in einer Qualifizierungsphase befinden gibt es unterstützende Förderangebote.
Wie finden Suchende das richtige Angebot?
Die Bedürfnisse sind sehr individuell, weshalb es zahlreiche Stellschrauben und Angebote braucht. Ein Beispiel: In der Wissenschaft ist es oft schwierig, Familie und Beruf unter einen Hut zu bringen. Dafür hat die Medizinische Fakultät in Halle ein umfangreiches fortlaufendes Förderprogramm für Nachwuchswissenschaftler:innen mit Erziehungs- und Pflegeverantwortung aufgesetzt (FörderNawUnimed). Diese finanzielle Förderung ermöglicht beispielsweise die befristete Anstellung wissenschaftlicher Hilfskräfte oder Tagungsbesuche, die der Vernetzung dienen. Das Angebot richtet sich insbesondere an Frauen, kann aber auch von Männern mit längerer Elternzeit beantragt werden, übrigens auch von Ärzt:innen des Klinikums, die forschend tätig sind. Hier gibt es noch ungenutzte Kapazitäten!
Es existieren weitere Programme, Coachings und Preise, die intern sowie extern getragen werden – zu viele, um sie hier alle zu nennen. Beispiele sind das Hallesche Promotionskolleg Medizin (HaPKoM) für Promovierende, das Mentoring-Programm (HaMeM) für PostDocs und das Clinician Scientist Programm für Forschung in der Facharztweiterbildung, die Teil des Wilhelm-Roux-Programms der Medizinischen Fakultät für Nachwuchsförderung sind. Aufbauend gibt es das Else Kröner Clinician Scientist Professuren Programm. Einige Angebote, wie FEMPOWER@MLU, richten sich explizit an Frauen.
Angebote sind also vorhanden: Wo hakt es dann?
Frist bedeutet Frust. Das Befristungsunwesen ufert aus, dadurch verlieren wir viele qualifizierte Mitarbeiter:innen schon nach der Promotion. Abgesehen von der Professur sollten Nachwuchswissenschaflter:innen die Möglichkeit haben, einer unbefristeten Tätigkeit in Lehre und Forschung als Karriereziel oder Karrierezwischenziel nachzugehen. Für Daueraufgaben sollten auch Dauerstellen geschaffen werden. Das Bedürfnis nach Sicherheit, weniger Druck und vor allem mehr Zeit führt dazu, dass die Wissenschaft viele gute Nachwuchswissenschaftler:innen verliert. Die existierenden Angebote könnten das zumindest reduzieren, werden teilweise aber nicht gut angenommen. Bei mir melden sich zumeist Vorgesetzte, die nach Fördermöglichkeiten für ihre Mitarbeiter:innen suchen. Wenn mehr Menschen die Initiative ergreifen würden, sich direkt über die Unterstützungsangebote zu informieren, könnte effektiver geholfen werden.
Mehr Zeit als Bedürfnis. Welche Lösungen wären denkbar?
Wir arbeiten an verschiedenen Ideen. In enger Zusammenarbeit mit der Dekanin Prof. Dr. Heike Kielstein entstehen derzeit weitere Unterstützungsangebote, die dieses Bedürfnis adressieren und über die wir bald genaueres berichten können. Außerdem wäre denkbar, dass Möglichkeiten geschaffen werden, Professuren und Führungspositionen in Teilzeit auszuüben.
In jeder Situation ist es wichtig zu wissen, dass es neben den Gleichstellungsbeauftragten der Fakultäten und der Universität weitere Anlaufstellen gibt, beispielsweise die Familienbeauftragten, die Mittelbau- und Schwerbehindertenvertretung sowie den Personalrat, für Studierende zudem das Studiendekanat und der Fachschaftsrat, die beratend und unterstützend tätig sind.
Zur Person
Annika Weißenborn arbeitet seit über 20 Jahren an der Medizinischen Fakultät der Martin-Luther-Universität. Seit 2015 ist sie als Medizinisch-technische Assistentin in der Core Facility Durchflusszytometrie am Zentrum für Medizinische Grundlagenforschung tätig. 2018 übernahm sie das Amt der Gleichstellungsbeauftragten, das sie bereits zuvor viele Jahre als Stellvertreterin unterstützt hat. Kontakt