Fehlbildungen in der Schwangerschaft und Gefährdung für Ungeborene: „Alkohol ist das stärkste bekannte Gift“
„Alkohol ist das stärkste bekannte Gift, das zu Fehlbildungen in der Schwangerschaft und lebenslangen Einschränkungen führen kann.“ Dr. Marcus Riemer bietet seit zwei Jahren am Universitätsklinikum Halle „Spezialsprechstunden für suchtkranke und substituierte Schwangere“ an. Für den leitenden Oberarzt der Universitätsklinik und Poliklinik für Geburtshilfe und Pränatalmedizin der Universitätsmedizin Halle gibt es keine unbedenklichen Mengen an Alkohol in der Schwangerschaft. „Alkohol kann zu jedem Zeitpunkt der Schwangerschaft zu Schäden des ungeborenen Kindes führen.“ Da der Alkohol aber ein legales Konsummittel sei und gesellschaftlich anerkannt, „betrifft es – im Gegensatz zu illegalen Suchtmitteln - zumeist eine ganz andere Risikogruppe“, so Riemer. So handele es sich bei Alkohol in der Schwangerschaft besonders häufig um Single-Frauen über 30 mit einem hohen sozioökonomischen Status und hoher Bildung.
Fetale Alkoholspektrum-Störungen (FASD) zählen zu den häufigsten angeborenen Behinderungen in Deutschland. Nach Schätzung der Bundesdrogenbeauftragten werden in Deutschland jährlich etwa 10.000 Kinder geboren, die unter einer Form von FASD leiden. „Es gibt ein breites Spektrum an Auffälligkeiten“, so Riemer. „Im Vollbild, dem fetalen Alkoholsyndrom, zeigen sich Auffälligkeiten im Gesicht, wie zum Beispiel kurze Lidspalte, schmales Lippenrot oder fehlendes Philtrum, Auffälligkeiten des zentralen Nervensystems, unter anderem neurologische und kognitive Entwicklungsstörungen in Sprache, Motorik, Rechnen oder Verhalten, sowie Wachstums- und Entwicklungsstörungen und häufig Fehlbildungen zum Beispiel des Herzens.“ Dabei werde fälschlicherweise und im Unwissen des Alkoholkonsums der Mutter in der Schwangerschaft oftmals eher eine Aufmerksamkeits-Defizit-Hyperaktivitäts-Störung (ADHS) diagnostiziert, weil die Kinder häufig verhaltensauffällig sind. „Die Diagnose wird dadurch verzögert und meist erst im Schulkindalters gestellt“, erklärt Riemer.
Für ihn steht fest: „FASD ist die schwerste nicht-genetisch bedingte Behinderung und kann durch einen Alkoholverzicht in der Schwangerschaft zu 100 Prozent verhindert werden.“ Dies bedeute, dass nur eine umfassende Aufklärung - bereits beginnend im Schulalter - in allen gesellschaftlichen Schichten, eine Wachsamkeit des Umfeldes der Betroffenen sowie Warnhinweise – zum Beispiel auf alkoholhaltigen Lebensmitteln – und eine kritische gesellschaftliche Auseinandersetzung die Problematik dauerhaft lösen könnte. „Für betroffene Kinder ist es wichtig, dass frühestmöglich die Diagnose gestellt wird, damit eine umfassende, interdisziplinäre Betreuung stattfinden, die Kinder bestmöglich gefördert und ihre Eltern ausreichend unterstützt werden können“, erklärt Riemer. Hierzu seien interdisziplinäre und –professionelle Anlaufstellen, wie sozialpädiatrische Zentren, aber auch die breite Information von Kita-Personal und Lehrerschaft von enormer Wichtigkeit. Seit mehreren Jahren arbeitet Riemer deshalb mit dem Verein „FASD Deutschland e.V.“ zusammen, hält Vorträge und führt Fortbildungsveranstaltungen interprofessionell und interdisziplinär durch, um Ärzt*innen, Hebammen, Therapeut*innen, Eltern, Betroffene, Sozialmitarbeitende aus Jugendämtern und Schulen, Lehrer*innen und Pflegepersonal über die Thematik aufzuklären und zu informieren.
Zum „Tag des alkoholgeschädigten Kindes“ am 9. September 2022 laden die Fachstellen für Suchtprävention Halle und Saalekreis zu einem Pressegespräch zum Thema „Schwangerschaft und Alkohol“ ein, an dem auch Dr. Marcus Riemer und PD Dr. Roland Haase von der Universitätsmedizin Halle als Experten teilnehmen werden:
Pressegespräch zum Thema „Schwangerschaft und Alkohol“
Freitag, 09. September 2022 ab 11.00 Uhr
In der Fachstelle für Suchtprävention
Moritzzwinger 17, 2. OG
06108 Halle (Saale)